HIER ERNST

Irmgard Ernst. Sie war eine Abenteurerin, angespornt von einer tiefen persönlichen Suche. Lehrerin, Heimwerkerin, passionierte Köchin, Gärtnerin, Schneiderin und der Kleber der Familie. Meine Oma: Om. Ihre große Leidenschaft war die Fotografie. Flink am Auslöser, war sie vor der Linse eher schüchtern. Als Vermächtnis hinterließ sie 20.000 unentdeckte Fotos und Memoiren von ihren Reisen um die Welt. Nun ist es an der Zeit, sie der Welt zurückzugeben.

Om und ihre Reisegruppe von der evangelischen Kirchengemeinde Iserlohn vorm Taj Mahal

Indien, November 1989

Der Reisebus ging kaputt. Nur wer ist der Mann?

Indien, November 1989

Oms Reisetagebuch

Dahlsen, 16.08.2018


Zuerst hörte man das kling der Telefongabel, dann meist ein kleines Räuspern und dann kam es, das glockenhelle, quicklebendige, Hier Ernst, das fast klang, wie eine nette Frage.

Hier Ernst… – so ging meine Oma immer ans Telefon. Beziehungsweise, an den Apparat, wie sie zu sagen pflegte. Wenn der schellte, dann lief sie los, geschäftig, und nach vorn gebeugt wie eine Skispringerin, denn ihr Haus war groß. Immer durch die Küchentür in den Flur, nie durch’s Wohnzimmer, denn das war -und ist- Onkel Ralfs Reich. Quietsch, die erste Tür auf, dann die vom Arbeitszimmer, deren Klinke mehr knarrte als quietschte. Überhaupt klang die Klinke vom Arbeitszimmer dumpfer als die der Küche. Das mag an den dicken Teppichen gelegen haben, am Klavier und an den vielen Büchern im Regal, die den Schall dämpften…

Hier Ernst – so ging meine Oma an den Apparat. Wenn der schellte, lief sie los, vornüber gebeugt wie eine Skispringerin.

An der Wand zu ihrer Rechten, die aus dem Ärmel Opa Erichs brauner Strickjacke lugte, machte sie mit einem kleinen klick das Licht an, das nur alte Kippschalter machen. Ich liebte diese Wand. Es war, denke ich, meine Lieblingswand im ganzen Haus. Große Worte aus meinem Mund, aber mir egal! Stundenlang konnte ich an dieser Wand kleben, an der mir in größeren und kleineren Rahmenformationen –bald im 50’s– bald im 60’s und 70’s Look– Omas Schulklassen und ihr Kollegium entgegen lächelten. Während die Einen mehr lächelten, gaben sich die Anderen eher verhalten. In meiner Vorstellung waren sie jedoch allesamt recht zufrieden. Eine Schülerin faszinierte mich. Blonde Haare, glatter Pony, Butterbrot in der Hand, hellgelbes Rolli-Shirt, große Augen und ein liebes Lächeln – ich fand sie einfach perfekt. “Wer ist das Mädchen da?” fragte ich meine Oma mal zu dem Foto, das bei einem Ausflug in die Natur aufgenommen wurde. Ich erinnere mich dunkel, sie hieß Saskia oder Lisa. Wie sie wohl jetzt aussieht?, dachte ich mir. Ob sie Kinder hat? Dass sie sich extrem glücklich schätzen konnte, MEINE Oma als Lehrerin gehabt zu haben. Ja… Aber, es klingelte ja der Apparat. Schell, schell, schell, und auf dem ledernen Sprechsessel Platz genommen – dann hatte man sie an der Strippe, gut gelaunt und höchstpersönlich.

Es war ein altes hell-beiges Telefon, mit einer ebenso beigen, stoff-überzogenen, gelockten Kabelschnur und einer Wählscheibe. Ich liebte das Schnurren der Wählscheibe! Alle Anrufe im Ort rief ich mit Vorwahl an, inklusive “0049”. Eines Nachmittags, da war ich noch klein, fuhr wohl der Teufel in mich: Irgendwoher hatte ich einen Edding aufgetrieben. Grün. Wasserfest. Edding war verboten. Mit dem malte ich, eins nach dem anderen, die Zahlenlöcher der Wählscheibe nach. In jedes Loch, von der 1 bis zur 0, malte ich zehn wunderschöne Kreise. Die königliche Befriedigung für meinen Geist ist mit Worten nicht zu beschreiben.

Egal, was kaputt ging – es wurde geflickt, gekittet, genagelt, gepflastert, oder sonst wie wieder ans Laufen gebracht.

Das war eins der wenigen Male, die Oma Irmgard, Wortlaut: Omma (phasenweise auch “Omma-Strich-Punkt-Komma!” und bis zuletzt “Om”) nicht mehr ruhig und lustig war. Sie lief puterrot an, krähte mich –zu Recht– an, was ich mir dabei gedacht hätte und versuchte es wegzumachen. Ich stand aus Solidarität dabei und wünschte mich selbst in das tiefste Loch.

Om probiert Hummer. Fotoabzug von einer*s unbekannten Reisekamerad*in

Indien, November 1989

Auzug aus Oms Reisereport

Dahlsen, 1. Dezember 1989

Ranakpur

Indien, November 1989


Dazu muss man sagen, Om war eine sehr behände Heimwerkerin: Egal, was kaputt ging – es wurde zusammen gekittet, geflickt, gepflastert, genagelt oder sonst wie wieder ans Laufen gebracht. Doch die grünen Eddingkringel blieben – bis heute. Sie gehören zu dem Stillleben, in das sich Oms Telefon fünf Jahre nach ihrem Tod verwandelt hat. Es muss eine Weile her sein, dass das Telefon geschellt hat, seit in dem großen Haus meiner Kindheit nurmehr Onkel Ralf wohnt, der Besuch nicht so gern hat. Oder Anrufe. Seither ist das große alte Haus für mich in einen tiefen Dornröschenschlaf gefallen… Gott, wie ich es vermisse.

20.000 Fotos und texte – Von den Galapagosinseln über Schott- und Russland, Portugal, Italien, die Türkei und Syrien ist alles dabei.

Doch das Universum hat an mich gedacht. Und mir, unglaublich genug, einen Schatz hinterlassen. Und, ja, er kommt auch noch in Schatzkisten! Um genau zu sein, sind es die alten Fotokisten meiner Oma. Ihr gesamtes Reisearchiv. Denn, um das kurz zu erwähnen, nach dem Tod meines Opas Erich 1987, der wohl mitunter ein recht ekliger Zeitgenosse sein konnte, entschied sich meine Oma, die Welt zu bereisen. Ihr Vermächtnis: Um die 30 Fotokisten mit Negativen, Reisereporten, Flugtickets, Eintrittskarten, Briefkorrespondenzen, nachgemachten Fotos, geschriebenen und ungeschriebenen Postkarten, Prospekten, Zeitungsschnipseln, Broschüren und Tagebüchern. Ihre Entdeckungsreisen. Auf dem Dachboden in einem eigens dafür angefertigten Möbel, schön geordnet, warteten sie, und ich habe mich schließlich ihrer angenommen. Ich musste ihre Welt der Abenteuer wieder zum Leben erwecken, Sie zum Leben erwecken.

Die erste Kiste war Indien. Indien hat sie sehr geliebt. Die Armut hat sie mal zum Heulen gebracht, hat sie mir erzählt.

Die erste Kiste war Indien. Indien hat sie sehr geliebt. Die Armut hat sie mal zum Heulen gebracht hat sie mir erzählt. Eine andere große Liebe von ihr war Israel. Ich glaube, sie war 3, 4 mal dort. Und Ägypten. Die Pharaonen, die alten Gräber… Von den Galapagosinseln über Schott- und Russland, Portugal, Italien, Türkei und Syrien ist alles dabei. Alles in allem müssten das um die 20.000 Fotos und Negative und etwa genauso viele geschriebene Seiten, Bilder aus Katalogen, Ansichtskarten und andere Dokumente sein. Mit dem Corona Lockdown im März habe ich nun endlich angefangen, sie zu scannen.

Hier gebe ich Einblick in die Welt einer faszinierenden Frau, Irmgard Ernst. Sie war eine Abenteurerin, hinter der Linse flink mit der Kamera, vor der Linse eher schüchtern, eine fleißige Ameise mit einer goldenen Seele, eine Pionierin auf dem Gebiet des kulturellen Brückenbauens, Lehrerin, Mutter von meinem Vater und meinem Onkel, Wahlmutter meiner Tante aus Opa Erichs 1. Ehe, die nach ihrer Flucht aus der DDR bei ihr heimkommen konnte, Tierliebhaberin, Botanikerin, Improvisationskünstlerin, passionierte Köchin, der Kleber der Familie und – meine Oma: Om.

Ich hoffe, ich kann Dir hiermit ein kleines bisschen von dem zurück geben, was du mir geschenkt hast: Liebe.


charlotte ernst