Königin unter Wasser

Charly in Xul-Ha

ENGLISH below

Ich sitze auf der Terrasse meines zukünftigen Appartments und blicke auf die Lagune von Xul-Ha. Erster Morgen. Dank den allzeit krähenden Hähnen, die sich heute früh in Form eines KIKERIKIE-Grafittis in meine Träume manifestierten, das ich an eine beschlagene Fensterscheibe malte, war es ein praktisch nahtloser Übergang von Traum zu Wirklichkeit.

Obwohl ich gestern angekündigt hatte, dass ich morgens gerne animalische Laute von mir gebe, war ich dann doch etwas schüchtern, als ich auf der Matte saß. Nicht, dass es irgendwen sonderliche interessiert hätte, aber schambehaftete Selbstwahrnehmung und so. Also machte ich intuitives Yoga, fühlte rein, womit es mir am Besten ging und wie intensiv ich meine Stimme einsetzen wollte. Zunächst saß ich im Lotus und schlürfte Luft. 30 mal ein- und ausatmen als wäre es das letzte Mal, wobei jeder Atemzug von einer Oberkörper-Kobrawelle begleitet wird, mit der man nach vorne taucht um dann beim Ausatmen die Schultern -und alles was möglicherweise noch auf ihnen liegt, nach unten plumpsen lässt. Probiert's aus. Ich machte drei Durchgänge. Jeder endete mit einem langen Luftanhalten, Luft ganz Ausatmen, Aushalten. Ein Bild von meiner Krone erschien vor meinen geschlossenen Augen, gefolgt von mir als stolze Königin auf meinem Thron unter dem Meer, alles in Blau. Eine mini Luftblase entwich meinem Mund, ansonsten war da nur Ruhe und Frieden. Sogar das Hahnenkrähen war wie verschwunden.

Als ich fertig war mit Luftschlürfen, widmete ich meinem Beckenboden meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich legte mich auf die Seite und bearbeitete jeweils Vaters Ahnenlinie (rechts) und Mutters Ahnenlinie (links). Mutter tat definitiv mehr weh, doch ich hielt mich an meinen Heilsprüchen fest, ich lasse Dich los, ich heile durch mich alle unsere Vorfahrinnen, ich bin der Schlüssel zum Wohlstand und zum Bewusstsein. Danach bouncte ich meinen Unterleib ein paar Mal ordentlich auf den Boden und verband mich mit meiner Stime Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa. Die großen AH's sind hierbei die Bouncer. Immer schön das Steißbein auf den Boden plumpsen lassen und Tönen! The Shit. Die Erleichterung war unbeschreiblich. Ich spürte förmlich, wie die alten Traumate porös wurden und nach und nach das Licht durch die Risse fiel. Ich spürte, wie das Alte, Schwere das auf meinen Schultern gelegen hatte, in den Boden abfloss, und von da gleich weiter in die Lagune. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa. Ohne, dass ich kontrollierte, war ich plötzlich in der Godefriedstraße gelandet und schwebte in einer virtuellen Tour durch die Zimmer und die Jahrzehnte hindurch. Hier hatte ich meine Kindheit verbracht. Hier war so viel passiert, so viel kaputt gemacht- und danach einfach unter den Teppich gekehrt worden. Aaaa-AH-AH-AH-AH-AH. Mein Becken war wie ein Vorschlaghammer, mich interessierte nichts mehr von außen, nicht die Nachbarfamilie im Garten, nicht der Untermieter unter mir, nicht Adri und Aaron. Ich sah mich, zuerst die Treppe hochgehen. Diese Treppe, die du Mama, mich hochgeprügelt- und du Papa, mich an den Haaren wieder runtergezerrt hast. Die ich sooft hochgerannt bin, um schnell im Zimmer abzuschließen und zu hoffen, dass ich den Schlüssel rechtzeitig umgedreht kriege. Diese Treppe, deren Fünfte und Sechste ich im Schlaf übersprungen habe, damit ihr Quietschen mich nicht verpetzte, wenn ich zu spät war, nachts noch was kochen- oder abhauen wollte.

Diese Treppe von der Angst in die Einsamkeit. Ich trommelte mit meinen Beckenknochen auf die Matte und machte meiner runtergeschluckten Wut Luft. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA—AAAA-A. So ging ich die Zimmer lang. Badezimmer. 1. Menstruation. Ich weiß noch, wie abweisend und angeekelt du warst, als ich dir mein kostbarstet Geheimnis anvertraute. Das gehört weggeschwiegen. Hier haste ne Binde, damit sieh zu, wie Du zurecht kommst und lass mich bloß in Ruhe mit deinem Scheiß. Danke. All die Male, die ich diese Frauen-Scham in verzweifelte Schaumbäder umwandelte, bei denen ich mich, dank deiner unzähligen Beschämungen für meine „Körperpflege“, auf alle erdenklichen Arten versuchte, zu enthaaren, zu entpickeln, mich dabei schnitt, verbrannte und mir die Krater meiner Pubertät zufügte. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, Ah!—Dabei stand natürlich wie immer auf einmal jemand and der Klinke, rüttelte und schrie, ich solle sofort rauskommen, sonst knallt's. Oh schöne Jugend. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA— Zimmer für Zimmer ging es weiter. Mein Becken hing mittlerweile in Brücke-Position in der Luft und ich twirkte so sehr, dass meine Arschbacken vibrierten wie selten zuvor.

Euer Schlafzimmer, in dem du mich nie haben wolltest, in dem ich mich zu Papa verkroch, der mich löffelte, war das gut, war das schlecht? In dem stets Unfrieden herrschte und ich nachts eure Schreiereien mit Harry Potter versuchte auszublenden. Von hier aus Simons Zimmer, ufff, ich fühlte, ich brach schon jetzt zusammen, bei all den Räumen, die noch fehlten. In diesem Zimmer, das mal meins war, zugekleistert mit Girliness, Britney– und Pferdepostern und doch, so viel Trauer. In dem mir zu oft das Herz gebrochen wurde, ich mich verbarrikadiert hatte, einfach dafür, dass ich authentisch war. Authentisch wütend, weil beleidigt, authentisch traurig, weil mal wieder stehen gelassen. Dann „mein“ Zimmer, das alte Zimmer von Moritz, und die Nächte, die ich mich, wieder einmal mit verrammelter Tür in den Schlaf heulte, schrie, schrieb oder einfach rastlos durchs Dorf zog. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA— und so ging es weiter, wieder die Treppe runter, den Flur entlang, in die Speisekammer, diesen Ort der unantastbaren Gourmetprodukte, der verbotenen Leckereien, des Gräuels auf dem süßen Zahn. (Denn klar, Gönnung = Tabu!) Diese Speisekammer, in der ich einen Abend alleine vom Medizinschränkchen stand und soweit war, mir alles reinzupfeiffen, wenn nur nicht jemand in just dem Moment nach Hause gekommen wäre. Shame, shame, shame, shame on you! Aaaa-AH-aaaaaaaa- AAAAH!

Ich lief weiter in die Garage und von da in die Werkstatt, zum Käfig von Sternschnuppe. Wieso warst du nicht dabei, als ich mein geliebtes Kaninchen bekam? Wieso warst du immer so sauer? Mama-Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa. So ging es weiter, Raum für Raum, die Seitenhiebe vorm Adventskranz an Weihnachten für unrasierte Beine und schwul-aussehende Exfreunde, für Yogaübungen und Peyotereisen, fürs Anderssein, Andersdenken, ungezähmt leben wollen. Und während ich mir meine Exorzismus-Twirks Raum für Raum aufteilte, merkte ich, wie ich losließ. Das war nicht mehr meins. Das war einmal mein Leben und dann flatterte der Beo ab in die Freiheit. Wo einige Challenges warteten, na klar. Ich begab mich in Babypose auf die Knie, dass mein Bäuchlein schön Platz hatte und berührte mit der Stirn den Boden. Vor meinem inneren Auge zündete ich einen fetten Palo Santo an. Der eine wurde zu zwei, die zwei multiplizierten sich noch mal, weil ich brauchte halt Munition!- und so räucherte ich à la Edward mit den Scherenhänden in Charly mit den Palo Santo Händen, in einem langen Schwung mein Elternhaus. Halb tanzte- halb schwebte ich, flog durch die Zimmer, brachte Medizin, die leer macht, Platz schafft, neutralisiert. Mit Liebe. Ich glaub, ich brauch ne kleine Siesta, was ist los, ich werd ganz ganz müde grade. Ist aber auch kein Pappenstiel, wegen einer intensiven Yoga-Session am Morgen mal grade meine gesamte Geschichte Revue passieren zu lassen und dann auszuräuchern. AHO! Ich habe es gerade getan. Lungen, lüftet Euch!

ENGLISH

I sit on the terrace of my future apartment and look out over the lagoon of Xul-Ha. First morning. Thanks to the all-time crowing roosters that manifested themselves into my dreams this morning in the form of a KIKERIKIE grafitti that I painted on a fogged window pane, it was a virtually seamless transition from dream to reality.

Although I had announced yesterday that I like to make animalistic noises in the morning, I was then a bit timid as I sat on the mat. Not that anyone was particularly interested, but shameful self-awareness and so forth. So I did intuitive yoga, sensing what I was most comfortable with and how intensely I wanted to use my voice. First I sat in lotus and sipped air. Breathing in and out 30 times as if it were the last Piña Colada on Earth, accompanying each breath with an upper-body cobra wave, diving forward and then letting the shoulders - and anything else that might still be sitting on them - plop down as I exhaled. Give it a try. I did three rounds. Each ended with a long inhale, hold in air, exhale all the way out, hold out. An image of my crown appeared before my closed eyes, followed by me as a proud queen on my throne under the sea, all in blue. (Movie Tip: The Big Blue by Luc Besson).

One mini bubble escaped from my mouth, otherwise there was only peace and quiet. Even the crowing of the rooster had disappeared. When I was done slurping air, I gave my pelvic floor my undivided attention. I lay on my side and worked respectively Father's ancestral line (right) and Mother's ancestral line (left). Mother definitely hurt more, but I held on to my healing sayings, I let go of you, I heal through me all our ancestresses, I am the key to prosperity and consciousness. After that I bounced my abdomen properly on the floor a few times and connected with my voice Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa. The big AH's are the bouncers here. Always let the tailbone plop on the floor and sound! The Shit. The relief was indescribable. I could literally feel the old traumas becoming porous and gradually the light fell through the cracks. I felt how the old, heavy things that had lain on my shoulders drained away into the ground, and from there on into the lagoon. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa.

Without checking, I had suddenly landed in the Godefriedstraße and floated in a virtual tour through the rooms and the decades. This was where I had spent my childhood. So much had happened here, so much had been broken - and then simply swept under the carpet. Aaaa-AH-AH-AH-AH. My pelvis was like a sledgehammer, nothing from the outside interested me anymore, not the neighboring family in the garden, not the lodger below me, not Adri and Aaron. I saw myself, first going up the stairs. These stairs, which you mom, beat me up and you dad, dragged me down again by the hair. That I ran up so many times to quickly lock my room and hope that I would turn the key in time. This staircase, whose 5th and 6th I skipped in my sleep, so that its squeak wouldn't tell on me if I was late, cooking something late at night or wanted to run away.

That staircase from fear to loneliness. I drummed my pelvic bones on the mat and gave voice to my swallowed anger. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA-AAAA-A. So I walked the length of the rooms. Bathroom. 1st menstruation. I remember how dismissive and disgusted you were when I trusted you with my most precious secret. I don't want to hear about it. Here's a sanitary napkin, see how you get along and leave me alone with your shit. Thank you. All the times I turned that woman-shame into desperate bubble baths where, thanks to your countless shaming of me for my "body care", I tried in every way imaginable to depilate, de-pimple, cut myself, burn myself, and cratered my puberty. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, Ah!-When, of course, as always, someone stood at the door handle, shook and shouted, I should come out immediately, otherwise it bangs. Oh beautiful youth. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA- room by room it went on. My pelvis was by now hanging in the air in bridge position and I twirled so much that my ass cheeks vibrated like seldom before. Your bedroom, in which you never wanted me, in which I crawled to Dad, who spooned me, was that good, was that bad? In which there was always discord and at night I tried to block out your shouting matches with Harry Potter. From here Simon's room, ufff, I felt I was already collapsing, with all the rooms that were still missing.

In this room that used to be mine, plastered with girliness, Britney and horse posters and yet, so much sadness. Where I've had my heart broken too many times, where I'd spent time barricading myself away, simply for being authentic. Or authentically angry, because offended, or authentically sad, because once again left alone. Then "my" room, Moritz's old room, and the nights I howled myself to sleep, once again with the door barricaded, screaming, writing, or just restlessly wandering around the village. Aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa, AAAA- and so it went on, back down the stairs, down the hall, into the pantry, that place of untouchable gourmet products, forbidden treats, the horror on the sweet tooth. (Because clearly, indulgence = taboo!) This pantry, where I stood alone one evening from the medicine cabinet and was ready to whip up anything, if only someone hadn't come home at just that moment. Shame, shame, shame on you!

Aaaa-AH-aaaaaa- AAAAH!!! I ran on to the garage and from there to the workshop, to the cage of Shooting Star. Why weren't you there when I got my beloved rabbit? Why were you always so mad? Mama-aaaa-AH-aaaa-AH-aaaa. And so it went on, room by room, the jabs in front of the Christmas decorations for unshaven legs and gay-looking ex-boyfriends, for yoga exercises and peyote trips, for being different, thinking differently, wanting to live untamed. And while I was splitting my exorcism twirls room by room, I noticed myself letting go. This wasn't mine anymore. This used to be my life and then the Beo fluttered off to freedom. Where some challenges would be waiting, of course.

I got down on my knees in baby pose so that my little belly had enough space and touched the ground with my forehead. In my internal vision I lit a fat Palo Santo. The one multiplied to two, the two multiplied again, because I needed simply ammunition! - and so I incensed à la Edward with the scissors hands in Charly with the Palo Santo hands, in a long swing my parents' house. Half dancing-half floating, I flew through the rooms, bringing medicine that empties, clears, and neutralizes. With love. I think I need a little siesta, what's wrong, I'm getting really tired right now. But it is also no piece of cake to review my entire history because of an intensive yoga session in the morning and then to clear out the air. AHO! I just did it. Lungs, unclog yourself!

charlotte ernst